Der ÖPNV im Jahr 2030: Traum und Debakel?

Volker Röske, Sozialforscher und Organisationsberater, auf dem 20. Koblenzer Forum

Volker Röske hat die Berger-Studie „Verkehrswende gestalten – Gutachten über die Finanzierung von Leistungskosten der öffentlichen Mobilität“ genau unter die Lupe genommen. In seinem Beitrag geht er der Frage nach, wie Betriebsräte diese solide Daten- und Argumentationsfundgrube für die Gestaltung der Transformation der Nahverkehrsbranche und damit auch der Transformation der Nahverkehrsbetriebe nutzen können.

Wettbewerb über alles
In den letzten 20 Jahren sind sehr viele Verkehrsbetriebe immer wieder Gegenstand von Untersuchungen zur Kostenstruktur gewesen. Dies ist Betriebsräten nicht unbekannt. Die ermittelten Kosten in Euro und Cent pro Nutzwagenkilometer für die Buswerkstatt, den Fahrdienst, die Betriebslenkung, ja sogar für jede einzelne der vielen Leistungen eines Verkehrsbetriebes umgaben oft eine Geheimnis ausstrahlende betriebliche Verschwiegenheit: Nur nicht öffentlich darüber diskutieren, denn sonst könnte ja im Kreis- oder Stadtrat bekannt werden, wie „wir“, der Verkehrsbetrieb, im Wettbewerb ‚dastehen’. Somit hatten die Geschäftsführungen oder Vorstände fast schon ihr Ziel erreicht.

Die dann häufig oft mehr als hundert Seiten umfassenden Untersuchungen der Unternehmensberatungen leiteten immer gleichartige, tief einschneidende Rationalisierungsmaßnahmen ein: Ausgründungen von Unternehmensteilen – meist betraf es den Fahrdienst, Fremdvergaben von Verkehrsleistungen und weiterer vor- und nachgelagerter Arbeiten, optimierte Fahrzeugumläufe mit eingesparten Pausen- und Standzeiten, Standardisierung und Optimierung aller betrieblicher Prozessabläufe, Abbau von Arbeitsplätzen, vor allem in Werkstatt, Betriebsmanagement und sonstiger Verwaltung, Streichung freiwilliger, betrieblicher Sonderleistungen wie etwa eine ‚Gesundheitsprämie’ oder schließlich gar neue und schlechter bezahlte, tarifliche Entlohnungsbedingungen.

Die Begründung in den Vorlagen im Aufsichtsrat oder dem Betriebsrat gegenüber war überall fast gleichlautend: „alle Geschäftsprozesse an den Erfordernissen des Marktes auszurichten“. Maßstab für die einzuleitenden Maßnahmen waren die ermittelten betrieblichen Kosten in Euro und Cent pro Nutzwagenkilometer, oftmals mit einem bedeutungsvollen Hinweis des jeweiligen Aufgabenträgers auf die Wettbewerbsfähigkeit versehen, etwa derart: „Der Rat erwartet, dass die Verkehrsdienstleistungen kurz- bis mittelfristig zu wettbewerbsfähigen Konditionen erbracht werden.“ – So einfach funktionierte und funktioniert bis heute der fiktive, weil simulierte Wettbewerbsmarkt des ÖPNV, spätestens seit der Jahrtausendwende. 

Wettbewerb für die Zukunft?
Umso erstaunlicher erscheint ein „Leistungskostengutachten“ des ÖPNV, das vor fast genau einem Jahr – im Okt. 2021 – der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV)[i] veröffentlichte. Die darin ermittelten Kostenstrukturen der ÖPNV-Betriebe dienen der Begründung, welche Zusatzleistungen der ÖPNV zur Bewältigung der Klimakrise und der Verkehrswende übernehmen soll und welche Kosten dafür aufzubringen sind. Denn, nachdem „die Verkehrsunternehmen in den zurückliegenden Jahren eine konsequente Restrukturierung und Optimierung vorgenommen haben“, wie der VDV-Präsident Ingo Wortmann in seinem einleitenden Vorwort erläutert, soll dieses Gutachten aufzeigen, welche „notwendige Leistungssteigerung im ÖPNV“ erforderlich ist und „welche finanzielle Aufstellung 2030 und in den Jahren bis dahin für die Finanzierung des ÖPNV notwendig sein wird“. Die Frage ist, welche Ziele verfolgt dieses VDV-Gutachten, dient es allein der aktuellen Begründung für den zukünftigen Finanzierungsbedarf im Zusammenhang mit Klimakrise und Verkehrswende oder leitet es nicht eine gänzlich neue, argumentative Finanzierungstrategie für die „Leistungsoffensive“ des Verkehrssektors in den Jahren 2030plus ein?

Schauen wir uns die Hauptergebnisse in der in diesem Beitrag gebotenen Kürze an. Alle nun folgenden Seitenangaben beziehen sich auf das am Dokumentenende in der Anmerkung 1 bezeichnete VDV-Gutachten. Diesem VDV-Gutachten liegt ein „gesamthaftes Szenario für das Jahr 2030“ (S. 26) für den ÖPNV und SPNV zugrunde, das von der Erreichung der beschlossenen Klimaziele der Bundesregierung ausgeht (vgl. S. 24f.). Vereinfacht gesagt: Die viel beschworene Verkehrswende findet tatsächlich statt und sie bleibt nicht nur eine wohlwollende, politische Absicht.

Das Leistungsangebot von ÖPNV und SPNV, die Betriebsleistung in Form der Kennziffern Fahrzeug-km, Platz-km und Personen-km, steigt im Vergleich zum Bezugsjahr 2018 bis 2030 erheblich (vgl. S. 29f.). Oder als Finanzierungsbedarf in Euro pro Einwohnende durch die öffentliche Hand ausgedrückt: Er steigt von 120 Euro pro Einwohnende in 2018 um das rd. 2,5-fache auf 296 Euro pro Einwohnende in 2030. Insgesamt beläuft sich der ermittelte Finanzierungsbedarf in den Jahren 2018 – 2030, der als kumulierte Finanzierungslücke in dem Gutachten interessanterweise nicht aufgeführt ist, insgesamt auf rd. 48 Euro Mrd. (vgl. Abb. 7, S. 31).

Eine aufmerksame Leserin mag nun einwenden, das seien Zahlen von 2018, damals gab es noch keine Corona-Krise. Jetzt stellen wir angesichts des brutalen russischen Angriffskriegs auf die Ukraine fest, die grundlegende Transformation hin zu erneuerbaren Energien verschlafen zu haben und eine Energiekrise mit unglaublichen Preissteigerungen für Strom und Gas sowie eine bisher nie da gewesene Inflation. Dieser Einwand ist richtig, jedoch ist die VDV-Analyse mehr als eine reine Kostenstrukturanalyse, deren Ergebnisse mit fortschreitender Zeit ein Verfallsdatum haben. Es ist vielmehr eine Art Blaupause für eine zukunftsbezogene Lösung eines ‚alten‘ Problems: Wie soll der ÖPNV mit Bussen und Bahnen finanziert werden?

Denn – und das ist für mich das zentrale Ergebnis des VDV-Gutachtens und wird klar ausgesprochen:

  • „bei den aktuellen Rahmenbedingungen und Anforderungen der Politik (wirtschaftet) die Branche bereits heute effizient.“ (S. 70) und
  • „ … der öffentliche Anteil der Finanzierung in Deutschland (ist) im Verhältnis zum europäischen Ausland sogar vergleichsweise niedrig.“ (S. 31)

Mit anderen Worten: Der Nahverkehr mit Bussen und Bahnen ist „bei den aktuellen Rahmenbedingungen und Anforderungen der Politik“ eindeutig wettbewerbsfähig und bei der Finanzierung des Nahverkehrs durch die öffentliche Hand ist – im europäischen Vergleich – noch ‚Luft nach oben‘. Sollen die notwendigen Klimaschutzziele im Verkehrsbereich[ii] erreicht und die darauf bezogene Verkehrswende u.a. mit einer deutlichen Verlagerung des motorisierten, individuellen Verkehrs (MIV) auf den ÖPNV als einer zentralen Maßnahme umgesetzt werden, so gibt das VDV-Gutachten deutliche Hinweise, was zu tun ist und wie hoch der Finanzierungsbedarf für die angestrebte Angebotsausweitung ist.

Für das Jahr 2030 gegenüber 2018 bedeutet dies eine Steigerung des Angebotes über alle ÖPNV-Betriebsformen Bus, Bahn, SPNV und Linienbedarfsverkehr beispielsweise bei der Betriebsleistung in „Fzg.-km/Zug-km“ um 60% (S. 29). Daraus wird ein bislang ungedeckter Finanzierungsbedarf in Höhe von insgesamt rd. Euro 11 Mrd. allein für das Jahr 2030 abgeleitet. Ca. 72% oder Euro 7,84 Mrd. dieses ungedeckten Finanzierungsbedarfs entfallen auf den ÖPNV mit Bussen, Bahnen und Bedarfslinienverkehren. Fast nebenbei zeigt das VDV-Gutachten damit, wie bedeutsam in Zukunft der Bedarfslinienverkehren werden soll. 49% des ungedeckten Finanzierungsbedarfs oder Euro 3,8 Mrd. sind allein den Bedarfslinienverkehren zu zurechnen, eine ungeheure Investitionssumme, die in den kommenden Jahren auf die Verkehrsbetriebe zu rollen (vgl. insbes. S 24 – 38) würde. Gleichzeitig ist dies ein bedeutsames Marktvolumen, um das sich schon heute einige Unternehmen der Plattformökonomie wie …

Die Transformation der Nahverkehrsbranche
Die Transformation in der Nahverkehrsbranche ist eingeleitet. Es entsteht auf jeden Fall ein neuer Mix in den Bedienformen des ÖPNV. In den ÖPNV mit Bus und Bahn, dem SPNV wird ein flexibler Linienbedarfsverkehr im Stadt- und Regionalverkehr mit kleineren Fahrzeugen zukünftig als integraler Bestandteil aufgenommen. Ja, es scheint sich eine bedeutende Leistungsverschiebung zugunsten von bedarfsorientierten Angeboten, insbesondere beim Regionalverkehr in ländlichen und suburbanen Räumen anzudeuten.

Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Personenbeförderungsrechts vom 16. April 2021 sind in § 44 des novellierten Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) flexible Linienbedarfsverkehre im ÖPNV ermöglicht worden. Obwohl seitdem nach Angaben des VDV[iii] etwa 80 solcher Bedarfsverkehre (on demand) eingerichtet worden sind, liegen über die Wirksamkeit, Effektivität und tatsächlichen Kosten auf ein integriertes, öffentliches Mobilitätsangebot bisher wenig Erfahrungen vor. Zumindest in Bezug auf die Kosten von Linienbedarfsverkehren kann das VDV-Gutachten durchaus gesicherte Auskunft geben. Bei der Leistungskennzahl ‚Kosten pro Platz-km‘ im Linienbedarfsverkehr liegt dieser Kostensatz „weit höher als im Linienbusverkehr“; sie werden 2030 um das Achtfache höher sein als im Linienbusverkehr (S. 35 – 36).

Eine Ausschreibung von Linienverkehren mit der gleichzeitigen Einrichtung von Bedarfsverkehren, wie etwa in einem Linienbündel des Landkreises Karlsruhe, wird in Zukunft nicht eine Ausnahme bleiben, denn der Ersatz von Linienverkehren durch On-demand-Angebote ist eine verführerische Alternative. So heißt es z.B. in einer Vorinformation für öffentliche Dienstleistungsaufträge[iv]: „Die On Demand-Verkehre sollen das Busangebot in den Schwachlastzeiten (unter der Woche abends sowie am Wochenende und feiertags ganztags) ergänzen bzw. sukzessive ersetzen.“ Noch sind es quantitativ überschaubare Angebotsveränderungen durch On Demand-Verkehre, noch beeindruckt die ‚Modernität‘ ausstrahlende Digitalisierungswelle im ÖPNV in Form von Apps aus dem Apple- oder Google-Shop wie „Syltride“, „FreyFahrt“, „HeinerLiner“, „Hin&Wech“ oder „elbMobil“.

Das letzte Beispiel zeigt, dass nicht nur ein flüchtiger Blick in das Gutachten: „Verkehrswende gestalten – Gutachten über die Finanzierung von Leistungskosten der öffentlichen Mobilität“  Verkehrsbetriebsräten anzuraten ist. Wir sollten fragen, wie Betriebsräte diese solide Daten- und Argumentationsfundgrube für die Gestaltung der Transformation der Nahverkehrsbranche und damit auch der Transformation der Nahverkehrsbetriebe nutzen können. Wenn wir dies bejahen, so sind die in den Kapiteln 2.1 und 3 sowie im Anhang des Gutachtens (vgl. S. 29 – 61 sowie S. 106 ff.) beispielsweise die aufgezeigten Stückkosten von Bussen im Stadt- und Regionalverkehr, von Straßenbahnen, dem SPNV und den Bedarfslinienverkehren (on demand) in Stadt und Region als auch den allgemeinen Annahmen und Berechnungsmethoden eine wahre Fundgrube für eine aktive Beteiligung von Betriebsrat und Wirtschaftsausschuss an diesem Transformationsprozess.

Und was wäre beispielsweise zu tun?
Vielleicht macht es Betriebsräten sogar Spaß, mit der Grundaussage des VDV-Gutachtens zu argumentieren: Unser ÖPNV „ist heute schon effizient“ und um weiterhin die Anforderungen effizient zu erfüllen, brechen wir die Methodik und Berechnungsdetails auf unseren Betrieb herunter. Das Ergebnis wird zwar eine „ungedeckte Finanzierungslücke“ sein, aber es werden auch Wege aufgezeigt, um die Ziele, wenn sie ernst genommen werden, zu erreichen.

Dies möchte ich an einem Beispiel erläutern: Die Geschäftsführung kündigt die Betriebsvereinbarung „Gesundheitsprämie“ und möchte sie – aus Kostenersparnisgründen – als betriebliche Sonderleistung streichen. Eine Argumentation könnte wie folgt aussehen:  

  • Die Kosten pro Fahrzeug-km Stadtbus liegen für 2022 in dem betreffenden Unternehmen – angepasst an die Annahmen des Gutachtens – bei Euro 4,48 pro Fzg.km und  für 2018 – das hat der Wirtschaftsausschuss ermittelt – bei Euro 4,32 pro Fzg.km
  • Die wettbewerbsfähigen Kosten lt. VDV-Gutachten sind: Euro 4,56 pro Fzg.km (2018!)
  • Der Differenzbetrag auf Basis 2018 beträgt: 0,24 pro Fzg.km

Ergebnis 1: Unser Unternehmen ist wettbewerbsfähig.

  • Die Betriebsleistung pro Jahr beträgt: 3.277.000 km
  • Der Betriebsrat reklamiert Euro 0,06 pro Fzg.km – dies entspricht 40% des Differenzbetrages – als Bonus für die gute, wettbewerbsfähige Kostenstruktur und bezogen auf die Betriebsleistung entspricht dies einem Betrag von: Euro 196.620
  • anspruchsberechtigte Fahrpersonale: 138

Ergebnis 2: DerVorschlag des Betriebsrates lautet:

Die Gesundheitsprämie bleibt erhalten. Sie ist vollkommen aus dem Bonus finanzierbar. Beim Arbeitgeber verblieben z.B. die restlichen 60%. Das Unternehmen ist weiterhin effizient und wettbewerbsfähig, hat keine „ungedeckte Finanzierungslücke“ im Sinne des VDV-Gutachtens und benutzt nicht die gestrichene „Gesundheitsprämie zur Finanzierung von Angebotslücken!

Zudem kam bei der Erarbeitung der betrieblichen Kostenstruktur im Wirtschaftsausschuss heraus, dass die um 42% höheren Kosten bei den E-Bussen gegenüber einem nicht batteriebetriebenen Stadtbus weder von der Geschäftsführung noch von dem Aufgabenträger als zu hoch angesehen wurden. Sie galten als normale und erforderliche variable Kosten zur Erreichung der Klimaziele. Was gilt als normal und erforderlich bei den variablen Kosten, wenn es keine Sachkosten, sondern Personalkosten sind?

Viele Verkehrsunternehmen beklagen derzeit hohe Krankenstände, eine außergewöhnlich hohe Fluktuation beim Fahrpersonal, enorme Schwierigkeiten bei der Personal- und Nachwuchsgewinnung. Dieser ‚Kampf um das Personal‘ auf dem Arbeitsmarkt sollte nachdenklich stimmen.

Habe ich ‚Appetit‘ gemacht auf 160 Seiten eines trockenen VDV-„Leistungskostengutachtens“?


Anmerkungen

[i] Roland Berger/Intraplan/Florenus im Auftrag des VDV: Verkehrswende gestalten – Gutachten über die Finanzierung von Leistungskosten der öffentlichen Mobilität vom 11. Juni 2021. Link

[ii] siehe dazu: Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) (https://www.gesetze-im-internet.de/ksg/KSG.pdf) und insbesondere die §§ 8, 9 und 10 bei Überschreitung der Jahresemissionsmengen; siehe dazu kritisch: Bundesumweltamt („Der Endenergieverbrauch des Verkehrs stagniert jedoch auf hohem Niveau … . Es wird schwierig, das Ziel … zu erreichen.“ (https://www.umweltbundesamt.de/daten/umweltindikatoren/indikator-endenergieverbrauch-des-verkehrs#die-wichtigsten-fakten ; Abfrage 06.10.2022)

[iii] siehe dazu: https://www.vdv.de/ondemandumfrage22.aspx (Abfrage 06.10.22)

[iv] So in der Vorinformation für öffentliche Dienstleistungsaufträge auf der Ausschreibungsplattform TED der EU unter der dem Kennzeichen: 472229-2021-DE vom 17/09/2021